Lipowsky 1811

Marchand, (Theobald): Marchand, (Theobald), ein Namen, den jeder deutscher Schauspieler mit eben der Achtung, wie den eines Schröder aussprechen wird, und den die Schauspielkunst nie vergessen darf. Dieser große Künstler, der ganz mole sua stans gewesen, der den Beifall der deutschen Nation, und die Bewunderung der Ausländer gehabt hatte, und der Stolz der Pfälzer und Baiern gewesen, wurde zu Straßburg 1750 geboren, wo er sich den Wissenschaften, und in der Folge der Wundarzneikunst widmete, dann aber als Wundarzt in den Spitälern von Paris praktizirte, Obgleich er in der Chirurgie bedeutende theoretische und praktische Kenntnisse sich erworben hatte, so behielt doch immer seine große Neigung zur Schauspielkunst die Oberhand, und sein sehnlichster Wunsch war chirurgische Instrumente gegen den Kothurn, und Theater-Dolche zu vertauschen. Er kam von Paris in seine Vaterstadt zurücke, um da als ausübender Wundarzt sich zu ernähren; allein -- wie ihm nur einige Zeit übrigte -- so saß er entweder im Schauspielhause, oder pflegte Umgang mit Schauspielern, und unterhielt sich mit denselben über Gegenstände der Kunst, wagte auch selbst hier und da im engen Zirkel vertrauter Freunde einige Versuche in der Deklamation. Aber plötzlich bot sich ihm eine Gelegenheit dar, seine heissesten Wünsche erfüllen zu können. Er lernte den Schauspiel-Direktor Sebastiani kennen, der ihn als Mitglied seiner Gesellschaft aufnahm. Marchand war nun ganz in seinem Fache; er studirte die Natur, las gute Schriften über Mimik, Schauspielkunst u. dgl. und gieng in Bälde als vollendeter Schauspieler aus sich selbst hervor. Keine fremde Macht hatte hier auf ihn eingewirkt; sein eignes Talent, seine Freude, seine Liebe zur Kunst, sein Fleiß entschieden. Im Jahre 1774 trat ihm Sebastiani gegen eine bedungene Geldsumme die Direktion über die Gesellschaft ab, und Marchand, der sich gute Leute zu verschaffen, und auch zu bilden verstand, erregte grosses Aufsehen am Rhein, und erhielt den entscheidendsten Beifall in allen großen Städten daselbst, z. B. Mannheim, Mainz, Frankfurt u. s. w. Seine Schauspiele und Operetten waren allgemein beliebt, und verdrängten endlich gar den Geschmack an französischen Schauspielen und Opern. Churfürst Karl Theodor, jener große Kenner und Beschützer der Künste und Wissenschaften, war einer der ersten Fürsten Deutschlands, der das in Mannheim gehabte französische Theater abdankte, und dafür 1776 den Marchand mit seiner ganzen Gesellschaft in seine Dienste, dann aber, als er nach dem Tode des Churfürsten Maximilian III. sein Hoflager nach München verlegte, auch mit dahin i. J. 1778 nahm, (1) wo er, bedauert von allen guten Menschen, die ihn kannten, und beweint von allen wahren Künstlern und Kunstkennern, am Schlagflusse 1802 gestorben ist (2). Dieses Mannes Kunst zu beschreiben, vermag so leicht keine Feder. Man muß ihn auf der Bühne gesehen haben, um sich eine Idee zu machen, wie groß er war. Sein Ausdruck war so mannigfaltig, seine Gesten, seine Phisonomie, und seine Blicke so rednerisch, so überzeugend, daß ihn selbst der verstand, der keine deutsche Sprache kannte; es wurde einem nicht schwer, ihm zu folgen. Er rührte im Pathetischen, im Tragischen erregte er die aufeinander folgenden Bewegungen der heftigsten Leidenschaften, und wühlte im Eingeweide des Zuschauers, zerriß ihm das Herz, durchbohrte ihm die Seele, und preßte ihm blutige Thränen aus. Im hohen Komischen gefiel und entzückte er, in der niedern Gattung ergötzte und belustigte er, und wußte überhaupt sich mit solcher Kunst für das Theater einzurichten, daß ihn selbst diejenigen verkannten, die täglich mit ihm umgiengen. Man kennt die unendliche Zahl von Charakteren, welche das deutsche Theater sowohl von sich, als auch aus in die deutsche Sprache übersetzten französischen, italienischen, englischen, spanischen und selbst schwedischen Trauer-Schau- und Lustspielen aufzuweisen hat; er spielte sie alle mit gleich großer Geschicklichkeit; er hatte gleichsam zur jeden Rolle ein eigenes Angesicht (3). Er verstand die Kunst nach Erforderniß der Charaktere gelegenheitlich an den Stellen, die gruppiren, oder ein Gemälde machen sollten, einige Pinselstriche anzubringen; das Alter, die Situation, der Charakter, die Lebensart, und der Rang der Personen, die er vorzustellen hatte, schrieben ihm die Farbe und Züge vor. -- Er studirte fleißig seine Rollen, noch mehr aber die Leidenschaften. Er liebte seine Kunst so sehr, daß er sich an den Tagen, wo er zu spielen hatte, in der Einsamkeit vorbereitete. Sein Genie erhub ihn zu den Fürsten, den er vorstellen sollte; er nahm seine Tugenden und Schwachheiten an; er drang in ihren Charakter und Geschmack; er schmelzte sich um; es war nicht mehr Marchand, welcher handelte, hörte oder sprach; wenn die Verwandlung einmal vorgegangen war, stand der Held da, kein Kömödiant, kein singender, mit klingenden Wörtern und rauschenden Schellen spielender moderner Deklamator. Man kann leicht denken, daß er wenig frei war, daß er den Kopf beständig voll hatte, daß er den größten Theil seines Lebens in einem abmattenden Enthusiasmus hinbrachte, der seine Gesundheit sehr angreifen mußte, und daß eben deßwegen seine Tage so sparsam gezählt waren, daß er so früh als Opfer seiner Kunst fiel. Er war indessen auch sehr munter, wenn er einen Dichter, Künstler, Zeitungsschreiber, einen Gewerbsmann u. s. w. vorzustellen hatte. Dem großen Marchand war auch die kleinste Rolle wichtig, und wenn er eine solche auf sich genommen, so konnte man auch hierinn bei der Vorstellung seine Präpotenz in der Kunst wahrnehmen, man mußte ihn bewundern, ihn als einen der ersten Künstler anstaunen. Wenn gleich kein schulgerechter Sänger, verstand er doch deutlich und mit Gefühl in Opern und Operettchen den Gesang vorzutragen, und immer war er von der Natur mit einer Stimme begabt, die nicht mißfiel. Wer ihn als Gärtner, in der Hochzeit des Figaro, mit Musik von Mozart; im Bettelstudent, mit Musik von Winter, als Müller; in den Dorf-Deputirten, mit Musik von Schuhbaur, als Schulze; als Martin in den beiden Geitzigen, mit Musik von Gretry u. s. w. singen hörte und spielen sah, wird hier die Wahrheit nicht verkennen. Marchand war der Mann, der seinen Geist unaufhörlich mit warmen Bildern genährt, und sich den Ton der wahren Empfindung zur Natur gemacht hat. Er verzehrte im Enthusiasmus sich für seine Kunst, und besaß die Kraft, sich über den Beifall des Publikums wegzusetzen, wenn er dabei der Natur hätte ungetreu werden sollen. Marchand lebte wenige Tage für sich; sehr viele für die Kunst. Ihm danket vorzüglich das deutsche Theater seine bessere Periode, seine feinere Ausbildung, sein Gedeihen. Nun ist er zwar nicht mehr in unserer Mitte; doch lebt er noch im dankbaren Angedenken derjenigen fort, die ihn kannten, und das Glück genossen, seine Kunst auf der Bühne bewundern zu können, und sein Geist beseelt noch manche seiner Zöglinge und verewiget sich so auch für künftige Jahrhunderte. Er hat gelebt, gewirkt, genützt, entzücket, die Kunst, der er gedient, gewann durch ihn, und er durch sie Unsterblichkeit! Anm. 1: Es dürfte den Lesern willkommen seyn, die Namen derjenigen Hofschauspieler u. Schauspielerinnen zu kennen, die Churfürst Karl Theodor von Mannheim nach München versetzte; sie sind folgende: Direktor: Theobald Marchand. Hofschauspieler: Huck, Tietcke, Sennefelder, Urban, Pilloti, Caro, Langlois, Zuccarini, Schubert. Hofschauspielerinnen: Madames Marchand, Pippo, Urban, Langlois, Franziska Lang, Antoine, Brochard Mdselle. Boudet. Theater-Architekt: Lorenz v. Quaglio. Hoftheater-Maler: Willerths, Joseph Quaglio, Pinketti. Designateurs: Egell, Zeller. Das Ballet-Personale bestand aus folgenden Individuen. Balletmeister: Lauckery. Erste Tänzer: Peter Crux, und Flad. Hoftänzer: Waimperle, Leonard, Neuer, Herter, Sartori, Schubert, Frank, Dürwel, Cors, Boudet. Hoftänzerinnen: Madmes Flad, Duboulay, Hartig, Danner, Madsells Cors, Herter, Falgera, Dimler, Hofmann, Hagenbuch, Redwein, Schmaus. Anm. 2: Seine Gattinn war Magdalena, geb. Brochard, die, 48 Jahre alt, zu München 1794 gestorben ist. Sie war zwar keine große, jedoch eine brauchbare und gute Schauspielerinn. Anm. 3: Diese große Kunst verstehen auch die Königl. Hofschauspieler zu München, Franz Xaver Heigl, Caro etc.